Text

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Sammlung

„HÖHERE GEWALT – eine fünf mit fünfzehn nullen“

2019

DAS WEISSE

Ich finde etwas Weißes am Strand. Zwischen dem schwarzen Seetang, der durch die Flut über den Damm gespült wurde leuchtet es hervor. Ich ziehe es aus dem Algenteppich heraus und begutachte es. Es riecht nach Meer und ist wie eine Koralle geformt. Ich streife meine Handschuhe ab und berühre es. Es ist Wachs. Später lese ich, dass das Paraffin aus Frachtschiffen stammt, die in Hamburg ihre Ladung gelöscht haben. An den Wänden der Tanks bleibt eine dünne Paraffinschicht kleben, wenn sie Erdölprodukte oder reines Paraffin geladen haben. Diese Reste dürfen legal ab der Zwölf-Seemeilen-Grenze ausgespült werden. Das Weiße findet man angespült durch Wind und Strömung, an den Stränden der Nord- und Ostsee.

MILCH

Die Kühe auf der Weide vor dem Fenster schreien bis tief in die Nacht. Am nächsten Morgen und den drei weiteren, hören sie nicht damit auf. Sie rufen nach ihren Kälbern, die mit einem Lkw abgeholt worden sind.

ZWANZIG EURO

Auf dem Bogen, den er ausfüllen soll, wird gefragt, ob er jemals Drogen konsumiert hat oder zurzeit welche konsumiert. Bei Frage dreiundzwanzig soll er angeben, ob er in den letzten sechs Monaten eine Beziehung oder Sex mit einem bisexuellen Mann hatte. Er kreuzt alle Fragen mit Nein an. Die Mitarbeiterin sprüht seine Armbeuge mit Desinfektionsmittel ein und drückt ihm ein kleines Herz aus Schaumstoff in die Hand. „Sie haben das ja schon öfter gemacht“, sagt sie und zieht sich Latexhandschuhe über. Er drückt ein paar Mal das kleine Herz, während sich die Blutdruck-manschette um seinen Oberarm automatisch fester zieht. Die Frau sticht mit einer Nadel in seine geschwollene Vene. Er ist jetzt an die Maschine angeschlossen. Sie zieht ihre Handschuhe aus, trägt etwas auf einem Klemmbrett ein und geht zur nächsten Liege, an der eine Maschine durchgängig piept. Auf ihrem roten Poloshirt steht auf dem Rücken der Schriftzug ‚Blutengel’. Er pumpt sein Blut in die Maschine. Nach ein paar Minuten tropft eine gelbliche Flüssigkeit, die aussieht wie Bratenfett, in einen Beutel, der an der Maschine hängt. Im Saal sitzen zwei Frauen und sechs Männer an identischen Geräten. Sie lesen Zeitschriften oder scrollen auf ihren Handys nach unten. Das Bratenfett sieht bei den Frauen etwas grünlicher aus als bei den Männern. Auf der Straße erkennen sie sich am weißen Verband um die Armbeuge.

DURCHDRINGEN

Der Junge sitzt auf einem schwarzen, mit Leder bezogenen Bürostuhl. Die Frau hat die Kamera in ihrer rechten Hand auf sich selbst gerichtet. Eine Penetration der Haut bei örtlicher Anwendung ist nicht wahrscheinlich. Er hat lange, rötlich gefärbte Haare, die er immer wieder über seine linke Schulter wirft, während er sich vorbeugt. Sie trägt eine sportliche Sonnenbrille, eine Baseballmütze mit Camouflage-muster und ein grünes T-Shirt auf dem der Schriftzug „I’m a top shot“ steht. Er trägt einen Pflegestift auf, presst die Lippen aufeinander, hebt seine Augenbrauen und blickt nach oben. Er zeigt der Kamera vierundvierzig verschiedene Lippenpflegestifte. Die Frau deutet auf ihren Pick-up Truck, auf dem ausgebreitet achtzehn verschiedene Gewehre liegen. Sie sind der Größe und dem Kaliber nach geordnet. Der Junge geht jeden seiner Lippenpflegestifte durch, erklärt die Vor- und Nachteile und ob er ihn weiterempfehlen kann. Sie richtet nach und nach ihre Schusswaffen auf einen Baum. Eine Penetration der Haut bei örtlicher Anwendung ist nicht wahrscheinlich. Die Munition des zwölften Gewehrs penetriert schließlich den Stamm.

AUF DURCHREISE

Jemand hat ein Schild mit einem Warnhinweis an einen Baum genagelt. Auf dem Schild steht, dass dies ein Jagdgebiet von Wölfen sei und man Hunde nur an der Leine und Kinder an der Hand führen solle. Auf einer Lichtung im Wald liegt der abgenagte Kadaver eines Schafes. Ein paar Meter weiter steht ein Hochsitz. Die Fensteröffnungen, des mit Tarnnetzen verhangenen Verschlags, blicken leer auf die Überreste des Köders.

VERBLICHEN

In amerikanischen Fernsehserien aus den 1990er und 2000er Jahren kann man manchmal beobachten, dass bei einer Szene, die während der Wintermonate auf der Straße oder vor einem Haus spielt, die Bäume im Zentrum der Handlung kein Laub mehr tragen. Die Bäume und Sträucher weiter im Hintergrund sind jedoch grün und entlarven so den falschen Winter vor der Kamera.

ANGST

Letzten Sommer fuhr ich mit dem Auto auf Landstraßen durch die innere Altmark. Ich parkte auf einem Feldweg, der angelegt worden war, um zu einem Windrad gelangen zu können. Das laute Zischen der Flügel klang wie eine erste Warnung, dass ich mich nicht weiter nähern sollte. Als ich direkt unter dem Windrad stand



also senkte ich den Blick und sah auf den staubigen Acker, der immer wieder durch die Schatten des Windrades verdunkelt wurde.

FEUER

Er hat die Rauchfahne schon von Weitem gesehen, aber erst als die Autobahn eine Kurve macht bemerkt er, dass er direkt auf den Brand zufährt. Die Autos bilden eine Rettungsgasse und ein Feuerwehrmann winkt die im Schritttempo fahrenden Autos energisch vorbei. Das gesamte Fahrerhaus des Lkws und die Hälfte des ersten Anhängers stehen in Flammen. Einen Löschwagen kann er nicht entdecken – dort ist nur der eine Feuerwehrmann. Als er den brennenden Lkw passiert, strahlt die Hitze des Feuers durch die Beifahrertür hindurch. Hinter dem Unfall bleiben einige Autos stehen und die Reisenden steigen aus.

EWIGE MÄDCHEN

In der Oberstufe habe ich einen Sommer lang als Barkeeperin in einer Diskothek gearbeitet. Das war eine Zeit, als Flatrate-Saufen noch angesagt war und wir viele Eiswürfel in die Gläser füllen sollten, um an Alkohol und Energydrinks zu sparen. Einmal im Monat gab es eine Schaumparty. Ich zog meine Gummistiefel zur Arbeit an und musste darauf achten, dass kein Schaum über die Theke schwappte. Je später der Abend wurde, desto überschwänglicher drückte der DJ auf die Knöpfe der Schaumkanone. Die nackten Oberkörper der jungen Männer glänzten frisch rasiert im bunten Discolicht, während sie die jungen Mädchen mit ihren Mascara verschmierten Gesichter von hinten antanzten. Vor der Theke auf einem Barhocker saß ein Mädchen rittlings auf dem Schoß eines Jungen. Ich konnte nur ihre Köpfe und Hälse und die stoßenden Bewegungen sehen, alles andere war vom Schaum verborgen. Als ich gegen acht Uhr morgens die Diskothek verließ und meine Gummistiefel auszog, hatte ich einen roten Ausschlag an den Beinen, dort wo die Gummistiefel meine Haut nicht bedeckt hatten.

WAS WIR SEHEN WOLLEN

„Das ist eine Ohnmacht, die man dabei empfindet“, sagt die Frau, während sie auf einem Laptop Fotos ihrer toten Rinder zeigt, die von Wölfen gerissen wurden. Sie sitzt auf einer schwarzen Ledercouch. „Die Situation wird sich noch verschärfen, wir stehen ja erst am Anfang einer Entwicklung. Ich weiß nicht, man kommt sich manchmal vor wie ein Versuchskaninchen“, sagt sie.

DER LETZTE SATZ

Sollte ich je ein Buch schreiben, dann würde es mit dem Satz enden: „Ich hinterlasse ein schwarzes Schamhaar auf dem weißen Toilettensitz, ziehe meine Hose hoch und gehe aus der Tür, hinaus ins Freie.“ Ich würde hoffen, dass die Leute, die diesen Satz gelesen haben, jedes Mal daran denken müssen, wenn sie eine öffentliche Toilette aufsuchen und dort ein Haar auf der Klobrille vorfinden. Möglicherweise verliert dann dieses Haar den Ekel, den es hervorruft und wird zu etwas Neuem – einer Geschichte. In diesem Fall denke ich, sollte es etwas anderes sein, das ich hinterlasse. Ich möchte ein Stück des Weißen zurück lassen. Das Weiße veränderte sich leicht in seiner Farbe, wurde teilweise zum Grauen, müffelte und moderte nicht, es löste sich nicht auf, es ist nicht verbrannt, nicht zu Ruß geworden, hat sich nicht auf Fensterscheiben oder Tapeten gelegt. Es existiert als Gedanke und so immerwährend in diesem Text. Ich lege etwas Weißes auf den dunklen Tisch, ziehe meine Jacke über und gehe aus der Tür, hinaus ins Freie.


veröffentlicht 2019 im HANT–Magazin für Fotografie, Ausgabe 12

Sammlung „WAHRHEIT TEIL 1 – 3“

2018

Teil 1

Die hypnotisierende Wirkung oder die kriminalistische Bedeutung von Schnee

Ich laufe auf die Kreuzung zu. Es schneit in Böen aber ohne Ton. Der Wind schiebt die Schneeflocken aus Westen Richtung Osten immer weiter. Es ist Sonntagvormittag und ich will mit der Straßenbahn entgegen der Richtung des Schnees fahren. Während ich die Kreuzung überquere, sehe ich ein kleines gelbes Auto, welches schräg am Fahrbahnrand mit eingeschalteter Warnblinkanlage steht. Die linke vordere Seite ist gänzlich eingedellt. Ein zweites Auto ist nicht zu sehen. Der Fahrer steht am Straßenrand. Die Polizei ist noch nicht gekommen. Ich warte an der Haltestelle. Auf der gegenüberliegenden Seite steht ein Mann mit Hut und dickem Mantel im Schneegestöber und macht ein Selfie. Der Schnee ist weiß und seine Haut schwarz. Meine Straßenbahn kommt und ich steige ein.

Vor einem Jahr

Ich gehe mit meiner Jacke in den Innenhof des Restaurants, in dem ich arbeite. Es ist montags in Leipzig und schon beim Öffnen der schweren Türe höre ich die Pfiffe und Schreie der Pegida Demonstration und der Gegendemonstrationen, die über die Hausdächer zu mir in den Hof gelangen. Ich setze mich zwischen Pfandflaschen und Mülltonnen auf einen regennassen Stuhl, zünde mir eine Zigarette an und ziehe mir die Jacke über. Die aufgeregten Gesichter, die Banner und Plakate, die Polizisten mit ihren Plastikschilden, das alles bleibt mir verborgen. Ich kann nur zuhören. Ich bin ein Teil des Alltags, der neben dem Irrsinn existiert. In meiner Fantasie stelle ich mir vor, wie das Pfeifen und Schreien lauter wird und auf mich eindringt, dass die Menschen im Restaurant von ihren Tischen aufspringen und über ihre Handys versuchen ihre Familien zu erreichen. Ich ziehe mein Handy aus der Jackentasche. Während sich die Telefonverbindung aufbaut, müssen die Menschen in meinem Kopf, zu Fuß und ohne Elektrizität weite Strecken überwinden, um herauszufinden, ob es denen, die sie lieben gut geht. Er geht ans Telefon und ich gehe nach einer Weile zurück an die Arbeit.

Ich habe meinen Eid gebrochen

Der Türöffner summt und ich betrete das Wohnhaus. Meine Schuhe hinterlassen nasse Flecken auf den bunten Fliesen. Ein Mann Ende vierzig öffnet die Tür der Erdgeschosswohnung. Der Reißverschluss seiner Hose steht offen und die ebenfalls geöffnete Gürtelschnalle klingelt ganz leise, wenn er sich bewegt. Er nimmt das Paket für seinen Nachbarn entgegen und unterschreibt mit der linken Hand in ordentlicher Schreibschrift. Herr Triebfürst fragt, ob er Post bekommen hat. Aus der Wohnung dringen gedämpft Fernsehergeräusche und heiße, muffige Luft lässt meine Brillengläser beschlagen.

Plädoyer über die Abwesenheit

Es ist kurz nach halb acht und ich sitze in der Tram, die voll besetzt ist mit morgendlichen Pendlern. Einige von ihnen halten Pappbecher oder Thermoskannen mit Kaffee in den Händen. Die Fensterscheiben sind beschlagen und die Heizung ist viel zu warm eingestellt. Während ich eine Nachricht in mein Handy tippe, geht ein junger Mann sehr schnell an mir vorbei und murmelt: „Das kann doch nicht sein… 8… 9… 10 von euch starren auf eure Handys.“ Er geht immer wieder der Länge der Tram nach auf und ab und hält sein verstörendes Plädoyer über unsere Abwesenheit. Einige Leute haben – wie ich, das Handy weggesteckt, fühlen sich ertappt. „Alter, auch wenn ich keine 3… 4… 5 Euro habe, bin ich trotzdem reicher als ihr.“ Dabei starren fast alle betreten auf den schneematschbesprenkelten Boden. Nach ein paar Augenblicken, in denen der Mann hin und her tigert, heben einige ihre Köpfe, schauen sich gegenseitig an und fangen an zu schmunzeln – sie bilden eine Einheit, versuchen aus dieser Situation zu entfliehen. Sie können nicht aussteigen, sie müssen zur Arbeit, zum Kindergarten, zur Schule fahren. Und ich sitze neben diesen Menschen, fühle mich feige und stumm, weil ich auch nicht aussteigen kann, um der Situation zu entgehen, weil ich auch auf mein Handy geschaut habe, weil ich diesem Mann nicht folge bei seinem energischen hin und her Gehen, weil er die Wahrheit sagt, obwohl er dabei verrückt aussieht, weil seine Hose um seine Beine schlackert und man seine schmutzige Unterhose sehen kann, weil die Menschen in dieser Tram sich entschieden haben ihn zu ignorieren und weil ich während ich dort saß schon an diesen Text dachte.

Teil 2 (Wien)

Allein sein heißt nicht einsam sein


Wenn ich nachts kurz vor dem Einschlafen in meinem Bett liege, dann beleuchtet der Lichtschein vom gegenüberliegenden Treppenhaus immer dann kurz mein Bett, wenn jemand nach Hause kommt. Ich lebe jetzt in einer anderen Stadt. Jeden Morgen, wenn ich aufwache, fühlt sich das noch fremd an. Es ist schön durch die Gassen zu gehen, aber lange halte ich es in der Kälte nicht aus. Gerade noch hatte ich meinem Alltag, meine Rituale, meinen Rhythmus. Jetzt bin ich hier, will die Stadt erkunden und etwas erleben. Aber ich bin viel in meinem Zimmer. Ich weiß nicht was ich tun soll mit der ganzen Zeit. Ich kann die Dinge, die ich sehe und erlebe mit niemandem teilen. Kaffeehäuser sind teuer, also sitze ich in diesem Zimmer, das ich gemietet habe in der großen Altbauwohnung und würde gerne niemanden sehen. Ich schaue zu viele Serien hintereinander und flüchte mich in andere Geschichten. Ich habe ein paar Leute kennengelernt, aber ich will nicht von ihnen abhängig sein. Vor ein paar Wochen noch habe ich mich über jeden Abend zu Hause gefreut, aber da war auch jemand, der auf mich gewartet hat, der neben mir eingeschlafen ist und der morgens genauso aus dem Mund gerochen hat wie ich. Allein sein heißt nicht einsam sein. Ich möchte mich in die Arbeit stürzen, tolle Ideen haben und inspirierende Vorlesungen besuchen. Dann ist die Zeit am Wochenende nicht mehr so lang, in der man alleine spazieren geht und sonntags alleine Tatort schaut. Ich drehe mich auf die andere Seite und versuche einzuschlafen.

Alte Bekannte

Ab und an, wenn ich in der U-Bahn sitze, dann sehe ich Personen, die mir bekannt vorkommen. Da ist so ein Detail, eine Ähnlichkeit zu einem Mädchen, das ich in der Schulzeit gekannt habe oder dem Kassierer, der mich daheim immer an der Supermarktkasse bedient. Ich versuche nicht zu starren und komme mir albern vor, denn nach ein paar Stationen kommt die Fremde dann doch hinter mir her.

Schreib es auf

Ich steige in die U-Bahn ein und setzte mich ans Fenster, obwohl es im U-Bahn-Schacht nur ab und an etwas zu sehen gibt. Ich habe eine angefangene Flasche Rotwein bei mir und bin auf dem Weg zu einer Freundin zum Abendessen. Die Flasche habe ich auf den Boden gestellt, eine Tüte hielt ich für überflüssig, doch jetzt fühle ich mich ertappt, als hätte ich soeben erst aus der Flasche getrunken. Ein paar Stationen später steigt ein Paar mit einem Hund in die U-Bahn ein. Die Frau und der Mann sind blind. Der Hund ist ein Golden Retriever. Die beiden stellen sich in die gegenüberliegende Tür, der Hund liegt zwischen ihnen und sie unterhalten sich. Meine Haltestelle kommt und ich stelle mich absichtlich in die Nähe des Paares, um auszusteigen. Die beiden haben anfangen sich zu küssen und seine Hand streichelt dabei immer wieder über ihre blonden Haare. Ich ziehe den Hebel heftig zur Seite, um die Tür zu öffnen und als ich aussteige, sehe ich einen Mann vor mir auf dem Bahnsteig liegen. Eine Angestellte der Verkehrsbetriebe steht über ihm und obwohl der Mann am Boden liegt, wirkt ihre Unterhaltung entspannt. Nach ein paar Metern kommen mir zwei Sanitäter entgegen. Ein Mann putzt abwärtsfahrend das Gummigeländer der Rolltreppe, während ich an ihm vorbei nach oben fahre.

U-Bahn

In der U-Bahn ist es fast immer wärmer als im Freien. Wenn die Touristengruppen durch die Unterführungen laufen, kann man ihre Regenjacken rascheln hören.

In der U-Bahn ist es fast immer kälter als im Freien. Wenn junge Mädchen durch die Unterführungen laufen, dann kann man hören wie ihre Oberschenkel aneinander schlagen.

Wellnessechse

Als meine Eltern mich besuchten, gingen wir Schnitzel essen in einem Restaurant am Stadtrand, wo die beiden in einer Pension wohnten. Das Restaurant war gleichzeitig ein Hotel, oder anders herum. Wenn man die Toilette aufsuchen wollte, musste man durch den Wellnessbereich gehen. In diesem mit Dschungelmotiven bemalten Gang, der nach Eukalyptus roch, stand ein großes Terrarium. Darin saß oben links in der hintersten Ecke eine Echse. Im vorderen Bereich stand eine Tonschale mit Erdbeeren und Löwenzahn. Dieser Farbtupfer im ansonsten beigefarbenen Terrarium war wie eine Leuchtboje. Die Echse schlief und das ordentlich drapierte Essen welkte vor sich hin. Ich ging auf die Toilette. Als ich wieder kam, stand das frittierte Schnitzel auf dem Tisch.

Teil 3

Der Test

Als ich neunzehn war und gerade erst seit ein paar Monaten in der Stadt lebte, besuchten mich drei alte Schulfreunde. J. und N. waren damals noch ein Paar und G. hatte sich noch nicht so stark verändert. Als wir abends angetrunken auf dem Weg in einen Club mit der Tram fuhren, stellten wir fest, dass G. einen großen Ekel vor Keimen und Bakterien verspürte. Wir machten uns einen Spaß daraus, unsere Hände an den Haltegriffen zu reiben und sie ihm dann ins Gesicht zu halten. Später im Club sah ich, dass jemand auf ein von unten beleuchtetes Tanzpodest geblutet hatte. Das Rot hob sich auf dem weißen Plastik leuchtend hervor. Ich wischte den Tropfen Blut mit dem Finger ab und lief zu G., um ihn damit zu ärgern. Er wurde wütend und ich merkte, dass ich zu weit gegangen war. Da ich das Blut nicht an meiner Hose abwischen wollte, steckte ich den Finger in den Mund und lutschte ihn ab.

Algen

Das Ufer des Baggersees ist fast vollständig mit Schilf zugewachsen. Es gibt ein paar Zugänge zum Wasser, in dem Algen sich ausgebreitet haben. Sie versucht das ungewohnte Gefühl zu ignorieren, das sie empfindet, wenn die Algen ihre Haut berühren. Die Pflanzen, die sie streifen, machen ihr bewusst, dass sie nicht allein ist im Wasser. Sie versucht schnell bis zur Mitte des Sees zu schwimmen, wo es tiefer ist, aber immer wieder verfangen sich ihre Füße in den Algen. Sie hört auf zu schwimmen und lässt ihre Beine an die Oberfläche treiben, sodass sie fast auf dem Wasser liegt. Mit den Händen paddelt sie nach vorn und atmet in ihren Bauch, damit ihr Körper möglichst weit oben schwimmt. – Der Mann sitzt direkt beim schmalen Zugang zum Wasser und schaut sie an. Er hat sie beobachtet und ihr zugenickt, als sie im Wasser schwamm und auf dem Rücken trieb. Ihre Brüste lagen dabei auf der Wasseroberfläche. Er hat ihr zugeschaut und sich umgedreht, als sie zurück zu ihrem Handtuch ging. Er blickt sie an, während sie dort sitzt und in einem Buch liest. Ab und zu schaut sie in seine Richtung und er erwidert jedes Mal ihren Blick. Als sie sich nach einiger Zeit eine blaue Unterhose anzieht und sich dann in einen Schneidersitz setzt, sieht er sie immer noch an. Nach ein paar Stunden packt er seine Sachen zusammen, lächelt sie im Vorbeigehen an und wünscht ihr noch einen schönen Abend. – Sie hat die Mitte des Sees erreicht und lässt ihre Füße in die Tiefe sinken. Keine Algen berühren mehr ihre Haut.

Manchmal habe ich Angst im Dunkeln

Es ist nicht vollkommen dunkel, obwohl der Himmel bedeckt ist und es regnet. Ich gehe auf die Dünen zu und meine Socken werden klamm in den Sandalen, während ich eine geeignete Stelle suche, um zu pinkeln. Ich ziehe meine Hose herunter und hocke mich hin, dabei kann ich über die Kante der letzten Düne spähen und sehe ein Stück des dunklen Strandes und die Brandung des Meeres. Mein nackter Hintern wird nass vom Regen und meine Brillengläser beschlagen durch die Hitze meines Urins. Als wir später zusammen die Dünen hinunter gehen, streift das feuchte Dünengras am Rand des ausgetretenen Pfades meine Beine. Am Strand liegt ein hinabgestürzter Flaggturm aus dem zweiten Weltkrieg. Er ist gewaltig, aber in ein paar Jahren wird ihn das Meer ganz zu sich genommen haben.

Monstera Deliciosa

Sie sitzt mit zwei Freunden beim Abendessen in ihrer Wohngemein-schaft. Die Fenster, die zum Innenhof liegen, sind weit geöffnet und es herrscht ein dämmriges Licht in der großen Küche. Die Decken sind fast fünf Meter hoch, auf Bänken und in den Ecken stehen Blumentöpfe mit tropischen Pflanzen. Die Größte ist eine Monstera Deliciosa. Ihre ledrigen Blätter sind herzförmig und haben tiefe Einschnitte, um das Licht bis zu den unteren Blättern hindurch-zulassen. Sie verbringt gerade ein Auslandssemester in dieser Stadt und ihre Freunde E. und A. sind mit dem Auto angereist, um sie zu besuchen. E. ist im siebten Monat schwanger und A. ist die meiste Zeit gefahren. Sie essen Lachs mit Sahnesoße, Kartoffeln und viel Dill. Während sie essen sagt E., sie müsse ihr etwas erzählen. Sie sagt, sie sei schon seit langem mit M. befreundet. Sie versteht nicht sofort. E. sagt, der M., mit dem sie vor fast vier Jahren eine kurze Beziehung hatte. E. sagt, sie habe ein schlechtes Gewissen, weil es zwischen ihnen nicht gut geendet sei und sie verstehen könne, wenn sie jetzt verärgert sei. A. schaut sie von der Seite an und nippt an seinem Wein. Sie lacht erleichtert auf, zugleich wundert sie sich, dass E. denkt, sie würde deshalb wütend auf sie sein können. Während sie weiteressen, fällt es ihr wieder ein. M. hat damals, als er das erste Mal bei ihr übernachtete, mit ihr geschlafen. Sie weiß noch, dass er in sie eindrang und sie einfach nichts sagen konnte. Nur dalag. Als er fertig war, schmiegte er sich an sie und flüsterte ihr ins Ohr: „Willst du dich nicht waschen gehen?“ Er hatte sie nicht gefragt, ob sie die Pille nahm. Als sie eine Woche später die Beziehung beendete, war er verletzt. Sie sagt nichts zu E., denn sie konnte sich bis zu diesem Moment nicht an diese Nacht erinnern. E. und A. sind schon längst fertig, als sie ihren Teller leer gegessen hat.


veröffentlicht 2019 in ‚DAS EROTIK MAGAZIN‘ Magazin für Kunst & Kultur, 02/2019, CN_5

Sammlung „Sättigungsbeilage“

gesammelte Texte seit 2016

Cadillacs

Zäh wie Quecksilber sieht die träge Heckwelle aus, die sich hinter dem Schiff bildet. Man könnte glauben es sei unmöglich diese perfekte Form mit der Hand zu durchstoßen. Dann wird die Fähre langsamer und nur noch ein leicht erhabenes Muster erinnert an die stromlinienförmigen Kühlerhauben der Cadillacs aus Wasser, die gerade noch den Himmel und die Berge spiegelten.

o. T.

Der Mann geht hinter den Schalter. Er sagt etwas zu seinem Kollegen. Sein Blick tastet durch den Raum mit den Wartenden. Er dreht sich um, geht in die Knie. An seiner rechten Hüfte ist ein ledernes Holster an seinem Gürtel befestigt. In dem Holster steckt ein Revolver. Der Mann verlässt den Bereich hinter dem Schalter. Er geht neben seinem Kollegen, der einen Koffer mit einer Handschelle an seinem Handgelenk befestigt hat, durch den Raum mit den Wartenden. Der letzte Cowboy fährt den Geldtransporter.

Charisma

Diesen Sommer fuhr ich zu einer Sommerakademie nach Süddeutschland. Wir wohnten in einem Tagungshaus des Bistums und ich teilte mir ein Zimmer mit einer anderen Teilnehmerin. Ich schlief dreizehn Nächte lang in einem besonders weichen Bett unter einem hölzernen Kreuz und duschte morgens in einer Dusche unter einem besonders harten Wasserstrahl. Es wurden Gottesdienste und am Sonntag eine Eucharistiefeier abgehalten. Ich traute mich nicht zu fragen, was das ist. Abends trafen sich fast alle nach dem Gottesdienst im Aufenthaltsraum, um bis in die frühen Morgenstunden Bier zu trinken und Tischtennis zu spielen. Am Samstagabend wurde eine Cocktailparty organisiert. Ich hatte mich im Streit über die Musik mit einem besonders ehrgeizigen und charismatischen Jurastudenten angelegt. Er hatte durch den Alkohol einiges seines Charismas eingebüßt und mich beschimpft. Ich ging hoch in mein Zimmer. Meine Mitbewohnerin schlief schon, als ich meinen Laptop aufklappte, um mir einen Porno anzusehen. „Access Denied“ Die Hausleitung hatte den Zugang zu Pornoseiten gesperrt. Ich legte mich schlafen und stellte mich am nächsten Morgen wieder unter die Dusche mit dem besonders harten Wasserstrahl.

Displays im Dunkeln

Vor Kurzem habe ich im Radio einen Beitrag über ein wissenschaftliches Projekt zur Erforschung des Paarungsgesangs der Nachtigall gehört. Die männliche Nachtigall lockt das Weibchen mit seinem Gesang, der bis zu 200 verschiedene Strophen umfasst, vom Himmel, da diese später als die Männchen aus dem Süden eintreffen. Die Bürger wurden aufgerufen mittels einer speziell entwickelten App die Gesänge aufzuzeichnen, um zu untersuchen, ob es regionale Dialekte unter den Nachtigallen gibt. Wenn ich abends spazieren gehe, dann kann ich eine Nachtigall in einem großen Gebüsch singen hören. In diesem Gebüsch treffen sich oft Menschen, die sich Crystal Meth, zerdrückt auf den Displays ihrer Smartphones oder auf glatten Fliesen, durch die Nase zu ziehen. Wenn man die leuchtenden Handydisplays im Dickicht nicht sehen würde, wüsste man nicht, dass sie dort sind. Ich sehe sie nie hinein- oder hinausgehen.

Warten

Wie drei Sonntage hintereinander, fühlt es sich an. Sie haben die Heizung im Fernsehraum hochgedreht. Die Frau am runden Tisch mir gegenüber fragt mich, ob auch Deutsche mitfahren würden. Draußen im eingezäunten Garten steht eine Bank, daneben ein Haltestellenschild mit dem aktuellen Busfahrplan. Ich muss daran denken, dass ich irgendwo mal gelesen habe, dass alte Frauen sich absichtlich die Schamlippen mit Kot beschmieren würden, nur um dort berührt zu werden. Ich sage, ich kenne mich nicht aus mit Autorennen, aber bestimmt würden auch Deutsche mitfahren. Ich trinke aus der Tasse mit dem dünnen Kaffee und schwitze in meinen viel zu dicken Pullover.

Unter freiem Himmel

Auf dem Rückweg von den Duschen sehe ich, wie ein Kind auf eine Wiese kackt. Der Vater stülpt sich eine Plastiktüte über die Hand und hebt so den Haufen auf. Er zieht die Plastiktüte wieder über seine, den Kot umschließende Hand und lässt den Haufen los. Er knotet die Tüte zusammen und geht weiter.

Strahlenbüschel

Der Schweiß ist schon getrocknet, mein T-Shirt am Rücken noch nass. Es hat sehr lange nicht mehr geregnet und wenn es dann doch passiert, dann kann der trockene Boden das Wasser nicht aufnehmen. Die Sprecher*innen im Radio sagen, der Ernte würde der Regen jetzt auch nicht mehr helfen. Ich sitze in der S-Bahn zusammen mit den anderen Pendler*innen. Ich höre Musik über meine Kopfhörer und bin vertieft in mein Notizbuch, als mich ein junger Mann antippt und gestisch fragt,  ob der Platz neben mir noch frei ist. Ich bejahe und blicke weiter auf die gefüllten Seiten. Nach ein paar Haltestellen tippt mich der Mann wieder an – ich ziehe meinen Stöpsel aus dem Ohr und schaue ihn an. Er deutet mit dem Finger zum Fenster hin. Hinter dem Fenster sieht man gelbe Felder, am Horizont ein rotes Glühen und die Wolken grau und dicht. An einer Stelle dringt aus dem Wolkenzaun goldenes Licht und bescheint in dicken, scharfen Strahlen den vertrockneten Boden – es ist schaurig schön. Der Mann neben mir seufzt. Ich sitze dort und ärgere mich über mich selbst, gleichzeitig frage ich mich wie lang -lange genug ist – höflich diesem Naturschauspiel zuzuschauen. Der Mann seufzt noch mal und gibt mir damit die Erlaubnis mich wieder meinem Notizbuch zuzuwenden. Ich komme um kurz nach 20 Uhr in Leipzig an – die Wolken erst gegen 22 Uhr.